Nachdenken über die Pädagogik der Eutonie: Teil 1

EMPFINDEN - WAHRNEHMEN - ERKENNEN

Reflexion als "verkörperter Prozess" (Varela)

Text I: Hier geht es um Inhalte aus Kapitel 3.3 (Gudrun Nagel: Leibliches Lernen Gestalt werden lassen, S. 116 – 138) siehe auch das Vorwort zur Reihe

Das leibliche Subjekt: empfindend – wahrnehmend – erkennend 

Alle Hervorhebungen sind von mir (Renate Riese), ebenso die Gliederung. Die Seitenzahlen sind in Klammern gesetzt.  

1. empfinden – wahrnehmen – erkennen
 1.1 empfinden

„Im Empfinden entfaltet sich für den Erlebenden zugleich Ich und Welt, im Empfinden erlebt der Empfindende sich  u n d  die Welt, sich  i n  der Welt, sich  m i t  der Welt.“ Erwin Straus (118)

Ohne diesen Weltbezug gibt es kein Empfinden.

Das Empfinden ist subjektiv, eine sinnliche Gewissheit. Der Neurowissenschaftler Antonio R. Damasio spricht von „somatischen Hintergrundempfindungen“ und charakterisiert diese als „das Empfinden des Lebens selbst, das Empfinden des Seins.

Andere Umschreibungen lauten: „Gemeingefühl“ oder „Körper-Ich“ (Freud), „Gefühl der Wirklichkeit“ (Ratcliffe), „Erleben einer Gesamteindringlichkeit“ (Straus).

Der Psychoanalytiker und Säuglingsforscher Rene Spitz kennzeichnet diese Art der vorsprachlichen Wahrnehmung im Unterschied zur sprachlichen als vorwiegend rezeptiv; sie gehe „auf der Stufe der Tiefensensibilität und in ganzheitlicher Form vor sich, nach dem Prinzip des >alles oder nichts<.“`(121)

1.2 wahrnehmen

Die Wahrnehmung steht im Kontakt mit der objektiven Erfahrung. Ihre Realität ist eine objektive, allgemeine…“ (Erwin Straus)

Im Vorgang der Wahrnehmung nimmt das Subjekt etwas Empfundenes als etwas Bestimmtes wahr. Es gewinnt objektive Eigenschaften, die von der Situation abstrahierbar sind.

Der Strom des Empfindens wird unterbrochen. Das Subjekt ordnet seine Eindrücke und benennt sie; es tritt aus der unmittelbaren sprachlosen Erfahrung heraus und setzt sich in Beziehung. Dieser Vorgang verändert nicht nur seine Beziehung zur Welt (zu den Dingen), er verändert auch das Subjekt selbst.

Um den Unterschied zwischen Empfinden und Wahrnehmen zu beschreiben, verwendet der Neurologe, Psychiater und Philosoph Erwin Straus eine Analogie: „Der Raum des Empfindens verhält sich zum Raum der Wahrnehmung wie die Landschaft zur Geographie.“ (129) (vgl. 2.1)

1.3 erkennen

Der Mensch lernt, insofern er aufhört, unmittelbar zu reagieren. Er vermag zu lernen, weil er als Teil das Ganze, als Umfasstes das Umfassende denken kann.

Erwin Straus (131)

Lernen heißt etwas erkennen, das in seiner Bedeutung über den Augenblick hinausgeht. Es setzt die Fähigkeit voraus, sich von sich selbst zu distanzieren und eine aktuelle Situation zu überschreiten.

Zwar bleibt das Erkennen auf sinnliche Prozesse bezogen, aber der Mensch als sprachbegabtes Wesen gewinnt einen Standpunkt außerhalb der Erscheinungswelt, er schafft sich eine begriffliche Ordnung und kann sich anderen mitteilen.

Dass der Mensch sich so zu sich selbst verhält, bezeichnet Straus als „das Wunderbare und Eigentliche der menschlichen Existenz.“ (132)

2. Bestätigung, Kritik, Anregungen
2.1 Von der Empfindung zum Befinden

Gudrun Nagel hebt positiv hervor, dass sich die Eutonie mit ihrer Arbeit an der Empfindungsfähigkeit (insbesondere durch den Berührungs- und den Bewegungssinn) der vorsprachlichen, ganzheitlich strukturierten Tiefenwahrnehmung widme.

Sie sieht allerdings eine Gefahr: Je mehr die Gegenständlichkeit des Körpers und seiner Funktionen in den Vordergrund tritt, desto verschwommener bleibt die Befindlichkeit. Durch den Wechsel von der Gegenständlichkeit zur Gesamtbefindlichkeit komme die affektive Tönung des Erlebens gesteigert zum Tragen: Wie befinde ich mich als Subjekt in meiner Beziehung zur Welt?

Deshalb müsse dieser Wechsel zwischen den Erfahrungsdimensionen (empfinden und wahrnehmen) methodisch unterstützt werden.

Neben der Geographie solle die Landschaftskunde nicht zu kurz kommen (vgl. 1.2).

Fragen:

  • Wie unterstützen wir den Wechsel zwischen Wahrnehmen (Gegenständlichkeit) und Empfinden (Gesamtbefindlichkeit) methodisch?
  • Wie können wir „Landschaftskunde“ gestalten?

Durch Lenkung der Aufmerksamkeit werden einzelne Sinneswahrnehmungen (Details) in Relation zueinander gesetzt und miteinander verbunden. So bleiben sie nicht isoliert, bilden eine Gestalt. Dazu gehört das Innehalten und Seitenvergleichen.  In diesen „Pausen“ führen entsprechende Fragen von der Gegenständlichkeit auf das momentane Befinden und eine ganzheitliche Wahrnehmung zurück.

Begleitet wird der Fluss der Aufmerksamkeit durch bildhafte Verben wie strömen oder schweifen lassen, erweitern oder ausdehnen, in der Schwebe halten, durchdringen, den Raum füllen u.a.

Eine solche Sprache kann m. E. den Weg von der Gegenständlichkeit und Funktionalität  in die Wahrnehmung der Gesamtbefindlichkeit ebnen.   

Durch den Wechsel von Bewegung zum stillen Nachspüren oder Wirkenlassen schaffen wir eine Atmosphäre der Ruhe, in der die Zeit aufgehoben ist. Momente von Ganzheitserfahrung können sich einstellen.

Damit dies geschehen kann,

  • suchen wir angemessene Worte, die ein Aufmerksambleiben unterstützen;
  • bleiben wir schweigend in der Präsenz und lassen Stille wirken.

Der Geiger Yehudi Menuhin beschreibt Stille als „wirkliche Substanz, nicht als Abwesenheit eines Geräuschs. Diese echte Stille ist Klarheit, aber nie Farblosigkeit, ist Rhythmus, ist Fundament allen Denkens, darauf wächst alles Schöpferische von Wert.“ *

Der Autor Roger Willemsen formuliert: „Man kann die Stille bereisen, wie man das Meer bereist oder in eine Landschaft eintritt.“ (* in: Musik! Über ein Lebensgefühl, 8)

Landschaftskunde gestalten würde also bedeuten, Bedingungen zu schaffen, die diese Stille hervorzubringen vermögen.

2.2 Vom Empfinden zum Gestalten

Gudrun Nagel fragt: Wie lernen wir, uns selbst und die Welt zu verstehen?

Welche Bedeutung kommt der Empfindung im menschlichen Erkenntnisprozess zu?

Sie merkt kritisch an, Eutonie beschwöre das Erleben der Unmittelbarkeit des Augenblicks als Heilmittel. Sich auf „die Wirklichkeit des Augenblicks“ (Gerda Alexander) einzustellen, könne nur das Eingangstor zur Erkenntnis sein.

Um über den Augenblick hinaus zu kommen, brauchen wir eine Sprache, die uns ermöglicht, zu unserem Empfinden und Befinden in der Welt Stellung zu nehmen.

Ihre Forderung: Mehr Nachdenklichkeit! Raus aus der Sprachlosigkeit!

Wir können

… uns nähern, uns zu verständigen suchen, indem wir gemeinsam eine Sprache für bisher Unsagbares finden.“ (G.N. S. 138)

…durch Ausdifferenzierung unserer Erfahrung und durch Vorgänge des Symbolisierens und Verstehens   
n e u e  Sinngestalten hervorbringen.
“ (S.137, Hervorhebung von G.N.)

Fragen:

  • Was macht uns sprachlos?
  • Welche Möglichkeiten des Symbolisierens und Verstehens nutzen wir?

Jede/r kennt die Schwierigkeit, für das eigene unmittelbare Erleben in der Eutonie Worte zu finden. Es fällt schwer, sich davon zu distanzieren, und das ist auch nicht immer sinnvoll.

Der Phänomenologe Bernhard Waldenfels meint, dass wir eigentlich nur schweigend empfinden oder uns indirekt und rückfragend äußern können im Bewusstsein, dass wir (noch) keine Begriffe für das Empfundene haben. Es bestehe die Gefahr, dass der Reichtum der Empfindungen begrenzt werde. Das sinnliche Empfinden sei keine bloße Vorstufe, aus der wir Erkenntnisse herausfiltern. „Das Erkennen bleibt vielmehr rückbezogen auf einen sinnlichen Prozess der Gestaltbildung und Strukturierung“ mit seinen verschiedenen Anteilen und Vieldeutigkeiten. (133)

Wenn wir uns über diesen offenen und vieldeutigen Prozess verständigen wollen, brauchen wir eine neue Art des Sprechens. Sie lässt sich vergleichen mit der Art und Weise, wie wir in der Eutonie den Gruppenunterricht gestalten:

Dinge umkreisen, sich annähern und wieder entfernen, erkunden, erforschen, innehalten, sich anderen Dingen zuwenden, Verbindungen entdecken usw.

Ähnlich könnte sich auch unsere Sprache verhalten: suchend, tastend, ungefähr, subjektiv, spürend, rückbezüglich, prozessorientiert, verbindend, dialogisch, kreativ.

Welche anderen Möglichkeiten des Symbolisierens stehen uns zur Verfügung?

Mit kreativen, künstlerischen Ausdrucksformen expressiven Charakters lassen sich Erfahrungen vorbegrifflicher Art am besten verarbeiten. Sie sind ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur (Selbst-)Erkenntnis.

Hier haben wir von Gerda Alexander mit den Modellagen und Zeichnungen, den Bewegungsimprovisationen und Bewegungsstudien wunderbare Anregungen mitbekommen.

Dieses kreative Potenzial sollten wir noch mehr nutzen und weiterentwickeln, auch in der Arbeit mit so genannten Laien.

Denn aktives Formen und Gestalten hilft, sich zu distanzieren, die Sprachlosigkeit zu überwinden und im Rückblick, z.B. in der Betrachtung der modellierten Figur, Sinn und Bedeutung zu finden.

Das stärkt den Mut, zu sich zu stehen, und den Wunsch, sich Anderen mitzuteilen.

Eine neue Qualität des Dialogs in der Gruppe entsteht.

3. Zusammenfassung und Schlussfolgerung

Eutonie öffnet mit ihrer Arbeit an der Tiefensensibilität den Raum für ganzheitliches Erleben.

Sie hat das Potenzial, den Wechsel zwischen den Erfahrungsdimensionen Empfinden, Wahrnehmen und Erkennen anzuregen und zu begleiten.

Leibliches Lernen Gestalt werden lassen“ (Gudrun Nagel) lese ich u. A.  als Aufforderung, das kreative Potenzial für diesen Vollzug zu nutzen.

Die folgende Auflistung ist ergänzungsfähig:

  1. Modellieren mit Ton und anderen Materialien
  2. Zeichnen und Malen
  3. Bewegungsgestaltung: Improvisationen und Studien
  4. Sprachgestaltung: Sprechen / Schreiben

Wir sollten nicht nur Altbekanntes (z.B. das Modellieren mit Ton) wieder aufgreifen und mutiger variieren, sondern auch mit neuen Formen experimentieren.

Vor Allem sollten wir das methodische Vorgehen überprüfen und dokumentieren.

Am Ende steht die Frage nach Sinn und Bedeutung des Gestaltungsprozesses für jede/n Einzelne/n. In einer offenen Reflexion können sich alle Beteiligten einbringen und gemeinsam „n e u e  Sinngestalten“ (G.N.) hervorbringen.  

Die besondere Stärke der Eutonie Gerda Alexander liegt m. E. in der Arbeit an der Tiefensensibilität (didaktisch), im kreativen Gestalten (methodisch) und in der innigen Verbindung beider.  

© Renate Riese

Eutonie-Akademie Bremen

Dezember 2018

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