Nachdenken über die Pädagogik der Eutonie: Teil 4

Eutonie in der Erziehungswissenschaft

Überlegungen zur Dissertation von Gudrun Nagel „Leibliches Lernen Gestalt werden lassen. Eine konzeptkritische Auseinandersetzung mit dem Bildungsanspruch funktionaler Körperarbeitsverfahren – durchgeführt am Beispiel der Eutonie Gerda Alexander (Gudrun Nagel, Berlin 2015)

von Ursula Robenek

Mit der o.g. Publikation habe ich mich seit längerem beschäftigt, und auch wenn ich sie insgesamt nicht so systematisch und intensiv bearbeitet habe wie das 5. Kapitel (Holzkamps Lerntheorie), so meine ich doch, eine erste allgemeine Einschätzung formulieren zu dürfen.

Neugier, Interesse, Anerkennung, Respekt, (Er)staunen, Verwunderung und auch Ärger tauchten bei der Lektüre in mir auf und diese Reaktionen bilden Bezugspunkte für die folgenden Ausführungen.

Mit Interesse las ich die Einleitung mit den umfangreichen aus diversen Diskursen zusammengetragenen Lektüreverweisen, war beeindruckt von der Vielzahl der aufgeworfenen Fragen ebenso wie vom Umfang des Arbeitsvorhabens insgesamt. Meine Anerkennung für den Fleiß und den Elan  der Autorin stieg angesichts der von ihr aufgelisteten Originaltexte und Sekundärliteratur zur Eutonie, die es für sie zu erschließen galt.

Persönliches Erleben als Ausgangspunkt wissenschaftlichen Forschens

Gudrun Nagel entwickelte ihr ausgeprägtes Interesse an der Eutonie, denn

    „… an dem, was die Eutonie vermittelte, war etwas Neues. Als Bewegungswissenschaftlerin stellte  sich für mich die Frage, was dort eigentlich geschieht. Parallel zur Annäherung an die konzeptionellen Hintergründe dieses Körperarbeitsmodells besuchte ich in unregelmäßigen Abständen weitere Eutonie-Kurs-Angebote. Aber entstand kein schlüssiges Bild. Einerseits faszinierte mich die Eutonie    und andererseits wuchs auch eine Unzufriedenheit. Trotz vorhandenem Interesse, trotz überzeugender und manchmal sogar verblüffen körperlicher Effekte stellte sich Stagnation ein. Ein Durchdringen zu der versprochenen „Freilegung der Persönlichkeit“ (Alexander 2012) stellte sich nicht ein. Eine Weiterentwicklung blieb auf halbem Weg (oder am Ende?) hängen. Lag es an der Art der Vermittlung oder an dem Konzept selbst?“ (Nagel 2015, 17)

Es hat mich gewundert, dass die Autorin ihre in Unzufriedenheit mündende Verarbeitung ihrer Kursbesuche, ihre Enttäuschung über die ausbleibende Freilegung ihrer Persönlichkeit zwar darstellt, sich selbst dabei jedoch als erlebende Person mit Wünschen und Erwartungen nicht infrage stellt, sondern sie die Gründe für ihren empfundenen Mangel einseitig in der Vermittlung und im Konzept sucht.

Dass diese mir selbst bekannte Alltagshaltung „klar, es liegt an den anderen“ dazu geführt hat, die Eutonie wissenschaftlich reflektierend in den Blick zu nehmen, fand ich beeindruckend. Ich war neugierig darauf, was die Autorin erarbeitet hatte.

Eine Fundgrube an Literatur und Theorieansätzen – Anregungen zum Weiterforschen

Nach Lektüre der Originaltexte zur Eutonie sowie diverser Sekundärliteratur erstellt Nagel eine darauf basierende Gliederung, angereichert mit Fragen, die sie beim Lesen  entwickelte.

Hier können m.E. eine Reihe von  Ansatzpunkten gefunden werden für alle, die sich intensiver reflektierend mit der Eutonie beschäftigen wollen. Eine Auswahl wird je nach Tätigkeitsschwerpunkt vermutlich verschieden sein, ein Austausch darüber könnte anregen, weiter zu forschen.

Zum Nachdenken laden m.E. auch die Ausführungen ein, die Nagel zur Phänomenologie der Leiblichkeit präsentiert. Komplexe und komplizierte Theorieansätze hat sie rezipiert und bietet zum Forschungsbereich Leib/Körper eine Fülle von Informationen, Ergebnissen, Erkenntnissen, Einsichten und Fragestellungen. Eine Fundgrube für Interessierte.

Bei ihrem Vorgehen, die Konzeption der Eutonie auf der Folie der Leibphänomenologie zu betrachten, entwickelt Nagel einiges an Kritik, mit dem sich Kollegen und Kolleginnen in der Eutonie auseinandersetzen können. Das ist arbeitsintensiv, kann jedoch aktivierend und vitalisierend wirken, wie der diesjährige Winterkurs in Bremen bei Renate Riese gezeigt hat.

Phänomenologischer contra subjektwissenschaftlichen Theorieansatz  (Holzkamp)
– Hintergrund der kritischen Beurteilung der Eutonie-Konzeption durch Nagel

Bei ihrer Kritik an der Konzeption der Eutonie zitiert Nagel wiederholt Texte von Meyer-Drawe, emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaften, die pädagogische Theorieansätze mit Bezug auf Gedanken der Phänomenologie der Leiblichkeit entwickelte. Verwundert fragte ich mich, warum Nagel sich dem Komplex  Lernen und Lehren nicht aus phänomenologischer Perspektive näherte, obgleich sie „…eine phänomenologisch begründete, erweiterte und differenziertere Methodik in Verfahren der Körperarbeit“ (ebd., 215 ) vorschlägt. Stattdessen führt sie die subjektwissenschaftliche Lerntheorie Holzkamps in ihre Arbeit ein und erläutert:

    „Die phänomenologische Betrachtung hat in den Focus gerückt, dass leibliche(z.B. eutonische) Bewegung ohne Subjekt nicht denkbar ist, das sich wegen etwas und auf etwas hin bewegt….    beschäftige ich mich daher mit einer lerntheoretischen Konzeption, die in den Focus rückt, dass  auch Lernen nicht ohne ein Subjekt denkbar ist, das wegen etwas auf etwas hin lernt.“(ebd., 215)

Diese raffinierte Formulierung verdeckt m.E. den Bruch in der Arbeit:

Nachdem sie Holzkamps Ansatz der radikalen Abgrenzung von der „traditionell experimentell  orientierten  Mainstream Psychologie“ referiert und das sich daraus ergebende Vorgehen angesprochen hat, zitiert Nagel ihren Doktorvater Faulstich, der zusammen mit seinem Kollegen Ludwig mit Bezug auf Holzkamp betont, dass der Standpunkt des „Subjekts“ eine Ansicht der Welt eröffnet, die den gewohnten wissenschaftlichen Außenstandpunkt irritiert. Es gibt die Herausforderung, nicht vom Forschungs- oder Bildungs“objekt“ zu sprechen,  sondern vom „Subjekt“ in seiner Freiheit und Unverfügbarkeit. Nagel folgert:

    „Da die Entfaltung der Persönlichkeit und die Freiheit des Individuums für Gerda Alexander und in der Eutonie eine bedeutende Rolle spielen, müsste diese Forderung also ganz in ihrem Sinne sein.“ (ebd. 219)

Nun hätte es interessant werden können zu erfragen, wie Gerda Alexander bei ihrer Erforschung und Konzeption expansiv lernend agierte, hochkomplexe Bedeutungsstrukturen erschloss, ähnlich wie Holzkamp das in seiner lernenden Auseinandersetzung mit Schönbergs Zwölftonmusik praktizierte, allerdings an einem dem Alexanderschen Lebensinteresse entsprechenden Lerngegenstand.

Doch Nagel geht es um anderes. Sie interpretiert das Vorgehen Gerda Alexanders, ihre ursprünglichen Ideen beizubehalten, als „verblüffende Eigensinnigkeit, doch vor allem entlarvend.“(ebd., 284)

M. E. wäre mit Rückgriff auf Holzkamp ein Verbleib im personalen Lernen zu konstatieren, weil Gerda Alexander sich für einen Lerngegenstand entschied, der von dem anderer abwich.

 Taugt die Holzkampsche Lerntheorie zur Beurteilung gelingenden Lernens in der Eutonie?

An dieser Stelle ist es mir wichtig, auf den geschmeidigen Umgang  mit Zitaten zu verweisen, den Nagel praktiziert, ihr Ausblenden von Stimmen da, wo diese nicht in die oftmals harsche Kritik an der Eutonie passen.

So gibt sie einen oberflächlichen Hinweis (ebd., 225) auf die Publikation „Expansives Lernen“ (Baltmannsweiler, 2004), lässt jedoch die dort von verschiedenen Erziehungswissenschaftlern entfaltete Kritik an der Holzkampschen Lerntheorie unbeachtet. Die Beziehung zwischen Lehren und Lernen, der Aspekt der Vermittlung in pädagogischen Prozessen werden nicht zum Thema.

Ohne Berücksichtigung bleiben auch die von Frigga Haug (Lernverhältnisse, Hamburg 2003) entwickelten Einwände, die bemerkt:

    „Die Eingrenzung, die Holzkamp für seine präzise Begriffsbestimmung vornimmt, gilt ja zugleich der   folgenden Forschung…. frage ich mich, ob es weiterführend ist, ein Modell von Lernen vorzulegen, dem gegenüber die meisten realen Lernvorgänge als defizitär erscheinen müssen, Lernen also normativ zu fassen,… (Haug, 29)

Die kritischen Stimmen gegen den Holzkampschen Ansatz übergeht Nagel konsequent, setzt seine Ansprüche absolut und macht sie zur Messlatte für gelingendes Lernen in der Eutonie. Bewusst schreibe ich hier „in der Eutonie“, weil Gudrun Nagel zum Ende ihrer Arbeit hin die Grenzen zwischen Konzeption und Praxis verwischt – eine Ungenauigkeit, die mich verwundert. In der als Literaturarbeit angelegten Dissertation benennt Nagel eine Reihe von Problemen, zu denen sich EutoniepädagogInnen m.E. positionieren, einen kritischen Blick auf im Umlauf befindliche Konzeptionen werfen sollten.

Nagels Kritik an der Eutonie-Praxis erscheint wenig wissenschaftlich reflektiert

Positionieren sollten die KollegInnen sich gegen die Form, in der Nagel  ihre in Kursen gewonnenen Erfahrungen bearbeitet. Sie veröffentlicht:

   „ Bis in die tiefsten Gewebeschichten wird beobachtbar gemacht, dass sich schon dann etwas unter     der Haut abspielt, wenn wir uns eine Bewegung nur vorstellen….Die Begrenzung entsteht, wenn sich der Übende dabei vorrangig als  Zuschauer erlebt und nicht auch als  Regisseur, … .   Die Tür zu einem spannenden Erfahrungsfeld ist offen. Die Botschaft lautet: Hier geht es um meine  ganz konkrete Befindlichkeit um das Aufspüren von Zusammenhängen….. entsteht keine Klarheit und die Fragen danach versinken im Sog der Unmittelbarkeit.“ (Nagel, 274,275)

Dass  sich all das in Gudrun Nagel ereignet hat, dass sie zwischen Denken, Fühlen, Beobachten pendelte, irritiert und enttäuscht war, will ich nicht in Frage stellen. Sie wird es wohl so erinnern. Doch ist es möglich, so zu generalisieren, wie sie es tut, wenn sie von „spärlicher Reflexion“ und „Befindlichkeitsrunden“ spricht?

Dass die Praxis der Eutonie Mängel aufweist, will ich nicht bestreiten. Welche Praxis hat keine?

Allerdings: Praxis im Rahmen von Wissenschaft zu untersuchen, zu beleuchten und zu beurteilen erfordert mehr als das, was Gudrun Nagel einbringt. Ihre Darstellung der Praxis werte ich als individuelles Erleben, als  Empörung einer Bewegungswissenschaftlerin. Wissenschaftlich fundiert erscheinen mir ihre Ausführungen nicht.

Gudrun Nagels Darlegungen kamen mir an vielen Stellen, die ich hier nicht einzeln belegen möchte, besserwisserisch vor. Das hat mich geärgert, ebenso wie  verschiedentlich aufgeworfenen Vermutungen und Fragen, die im Raum stehen blieben, ohne von ihr bearbeitet zu werden.

Trotz allem lohnende Lektüre für eine Theoriebildung innerhalb der Eutonie

Trotz zeitweiligen Ärgers, trotz Überforderung bei der Lektüre des 3. Kapitels blieb mein Interesse an der Arbeit Nagels erhalten bis zum letzten Abschnitt. Auch dort gab es wieder viele aufgeworfene Fragen, jede Menge Anregungen, Material, das empfehlend angeboten wurde. Die umfängliche Auflistung dessen, was sich zur weiteren Bearbeitung anbot, ermüdete mich.

Ich habe gelernt, mich mit Theorien zu beschäftigen. Auch wenn die Freude daran im Laufe der Jahre weniger wurde, leiste ich  Theoriearbeit immer noch gern. So empfinde ich es nicht als vertane Zeit, mich mit der Dissertation Nagels beschäftigt zu haben, denn dabei habe ich einiges gelernt, wurde zum Nachdenken gebracht, entwickelte im Stillen Gegenargumente.

Deutlich wurde für mich, welche Herausforderungen auf diejenigen zukommen, die sich um die wissenschaftliche Anerkennung der Eutonie bemühen, egal auf welche Wissenschaft(en) der Bezug gewählt werden wird.

Nagels Arbeit macht  einen Schritt in das Feld der Erziehungswissenschaften, dafür verdient sie Respekt.

Ursula Robenek, Diplompädagogin
Eutoniepädagogin und Eutonietherapeutin

Gelsenkirchen, Januar 2019

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