Eutonie und Lernen

Lernen mit Eutonie

Aspekte der subjektwissenschaftlichen Lerntheorie von Klaus Holzkamp

skizziert von Ursula Robenek (siehe auch: https://eutonie-akademie.de/die-holzkampschen-lerntheorie), ausgewählt und neu formuliert von Renate Riese im Hinblick auf das Lernen mit Eutonie

Der Fragebogen zum Thema Lernen mit Eutonie wurde im Winterkurs 2020 in der Eutonie-Akademie Bremen ausgeteilt. Sechs KollegInnen haben die Fragen schriftlich beantwortet. Die Antworten sind im Folgenden zusammengeführt.

1.

Das lernende Subjekt als sinnlich-körperliches Individuum muss sich in der Welt behaupten. Durch inneres Sprechen äußert das Subjekt seine Zuwendung zur Welt, zu anderen und zu sich selbst. Inneres Sprechen als Mittel der Aufmerksamkeitslenkung ermöglicht ihm beim Lernen einen Dialog mit sich selbst.

(Wodurch) fördert Eutonie nach deiner Erfahrung den inneren Dialog?

  • Durch Fragen nach der Wahrnehmung, die neue Fragen und Antworten nach sich ziehen.
  • Der Wahrnehmung folgt Nachdenken und damit inneres Sprechen.
  • Das Ins-Verhältnis-Setzen von Tun, Erleben und Kommentieren ist Teil des Dialogs.
  • Er wird gefördert durch differenzierte Wahrnehmung des Körperinnenraums und durch das Training der Länge der Bewusstseinsspanne.

2.

Das Subjekt lernt, wenn es auf Schwierigkeiten stößt, die mit ihm bisher zur Verfügung stehenden Mitteln nicht überwunden werden können; es lernt „aus gutem Grund“. Lernen ist intentional, d.h. speziell gerichtetes Handeln zur Überwindung einer Handlungsschwierigkeit.

Welche „Schwierigkeiten“ gab es, die du mit den Mitteln der Eutonie „überwinden“ wolltest, als du dich für die Eutonie(-Ausbildung) entschieden hast?

  • Mir stellte sich die Frage: Was ist wirklich wichtig im Leben? Der Wunsch, das Leben zu verstehen.
  • Das vage Gefühl, dass mir immer etwas gefehlt hat.
  • Die Erkenntnis, dass die körperliche Dimension fehlte.
  • Der Wunsch, mehr Selbstbewusstsein zu entwickeln für den beruflichen Weg.
  • Der Wunsch, nicht nur im Kopf zu sein; sich als leibseelische Einheit zu fühlen.
  • Rücken- und Kopfschmerzen als Schwierigkeiten.
  • Der Körper als „Neuland“ / als „Leerstelle“.

 3.

Das Subjekt muss innehalten und Distanz gewinnen, um die Ursachen für seine Schwierigkeiten herauszufinden. Erst dann kann er nach Möglichkeiten suchen, die Barrieren zu überwinden.

Hilft dir die Eutonie in deinem Leben/deinem Alltag beim „Innehalten und Distanz gewinnen“? Welche Möglichkeiten hast du gefunden, „Barrieren zu überwinden“.

  • Eutonie: hilfreiche Begleiterin bei Selbstbeobachtung und -regulation.
  • Durch bewusste Berührung bei Aufregung und Stress.
  • Durch detailliertes Aufdröseln von Detail und Zusammenhängen waren Bewegungsbarrieren zu überwinden.
  • Durch Bewusstsein und spielerisches Ausprobieren.
  • Durch Aufrichtung über die Knochenstruktur, die mir einen freien Kopf beschert; eine Voraussetzung um Barrieren zu überwinden.
  • Das gewohnte Muster, den „Vorwärtsimpuls“ / die Ungeduld erkennen, sich zurückhalten, gelassen bleiben.
  • Fokus auf die aktuelle Situation; Annehmen der Eigensteuerung durch das Bewusstsein.
  • Rechtzeitig merken, wenn ich an meiner Grenze bin; den eigenen Zustand klären, spüren, was ich jetzt brauche.

4.

Das lernende Subjekt greift auf bereits vorhandenes Wissen und Können zurück. Es erfährt, dass es mehr zu lernen gibt, als ihm bisher bereits zugänglich ist.

Es ist in der Lage, immer komplexere Bedeutungsstrukturen zu erfassen. Ein solches Lernen ist intendiert und expansiv. Es ist stetig (permanent) und anwachsend (kumulativ) und bildet ein neues Niveau aus, das über die situative Bewältigung einer Schwierigkeit hinaus geht.

Stimmst du dem zu? Ist dein Lernen mit Eutonie „expansiv“? Worin liegt für dich heute das „Mehr“ oder das „neue Niveau“?

  • Weitgehende Zustimmung.
  • Lernen mit Eutonie macht neugierig. Man entdeckt Neues, Zusammenhänge werden bewusst; man dringt tiefer ein in „Geheimnisse“; man verbindet sich inniger mit sich.
  • Expansiv – ja! Mehr Offenheit, mehr Differenzierung, höheres Niveau in alltäglicher Handlungskompetenz.
  • Grundsätzlich ja, es war aber ein längerer Lernprozess, den Gewinn zu erkennen und zuzulassen.
  • Es erschließen sich ständig neue Welten; es bleibt immer was zu lernen.
  • Begrenzte Zustimmung, da ich immer wieder Gelerntes vergesse. Das Üben ist eher wie „Nahrung“, die wir kontinuierlich brauchen. Jedes Mal ist es ein bisschen anders.
  • Das „Mehr“: ein differenziertes Leibbewusstsein; das „neue Niveau“: die Erfahrung und Erkenntnis, dass ich den Körper bewusst einbeziehen kann, wenn ich Dingen auf die Spur kommen möchte.

5.

Mentales Lernen erfordert körperliche Bewegung. Praktische und mentale Aspekte können unterschiedlich akzentuiert sein, stehen jedoch immer in Bezug zueinander.

Ist eutonische Bewegung für dich mit mentalem Lernen verbunden? Wie äußert sich das? Kannst du das beschreiben oder an einem Beispiel verdeutlichen?

  • Bei der Arbeit mit dem Eutonieprinzip Transport.
  • Die Verbindung von praktischem und mentalem Lernen im Bereich Anatomie.
  • Anatomisches Wissen verankert sich im Bewusstsein; durch das Sprechen über Körpererfahrungen wiederum wird das Erlebte abstrahiert und mental verarbeitet.
  • Es äußert sich in einem „durchgängigen Bewusstsein“. Manch gute Gedanken für Konzepte und Herausforderungen sind schon auf der Matte entstanden.
  • Z.B. durch Knochenbewusstsein, Repousser, Transport.
  • Z.B. beim Spazierengehen: Bewegungsfluss in Raum und Zeit und in Verbindung mit allem, was mich umgibt, lässt Bilder, Gedanken, Assoziationen aufsteigen. Etwas in mir findet eine angemessene Antwort auf eine Frage, eine gute Entscheidung, Lösungen, mit denen ich zufrieden bin.

6.

Lernen enthält definitive* und affinitive* Momente, die im Lernprozess ins Verhältnis zu bringen bzw. so abzuwechseln sind, wie es die Situation erfordert.

* definitiv: abgegrenzt, bestimmt, fixiert, festgestellt

* affinitiv: offen, unbestimmt, assoziativ

Wie siehst du das Verhältnis dieser gegensätzlichen Anteile (definitive und affinitive Momente) in deinem Eutonie-Unterricht?

  • Kommt darauf an, ob ich mir Genuss gönne oder Wege gegen Schmerzen erforschen möchte.
  • Durch definitive Anregungen kann ich eine größere Freiheit in mir entdecken. In assoziativen Phasen kann ich diese neue Freiheit integrieren und mehr Leichtigkeit erleben.
  • Ich brauche die definitiven Momente, um systematisch zu lernen und das Gelernte zu verankern. Aber ohne die affinitiven Momente würde das Lernen weniger Freude bereiten. Affinitive Momente verhelfen zu „Lernsprüngen“; aus dem Offenen ergeben sich neue Verknüpfungen und Erkenntnisse.
  • Es ist genau diese Mischung, die mich fasziniert.
  • Definitive Momente: Bereiche der Wahrnehmung: Haut, Räume, Knochen, das Außen…
  • Affinitive Momente: Bewegungsabläufe, die sich während des Tuns formen und entwickeln.
  • Beide sind wichtig und verstärken einander. Die Gewichtung kann variieren.

7.

Die Fähigkeit, in eine unabgelenkte, entrückte, erfüllte Konzentrationshaltung zu gelangen und diese möglichst lange halten zu können ist  d i e  zentrale Dimension des Lernens in sportlichen und künstlerischen Bereichen.

Affinitive Lernphasen erlauben ein Herumschweifen. Dadurch werden thematisch-inhaltliche Aspekte des Lernens dominant. Deshalb sollten sie niemals unterdrückt werden. Beim Bewegungslernen ist eine affinitive Lernhaltung besonders dann hilfreich, wenn der Lernprozess stockt (Lernblockade).

Wie würdest du deine eigene Lernhaltung kennzeichnen?

  • Eher affinitiv: Ich erlaube mir das Umherschweifen, Assoziieren und Reflektieren, sofern ich nicht zu schnellen Ergebnissen kommen muss.
  • Aufgabenorientierte Lernhaltung. Alltägliches Tun als zentrale Dimension.
  • Ich bringe das Definitive und das Affinitive eher in gleichen Teilen zusammen: bei aller Offenheit zielorientiert.
  • Eher affinitiv; aber hilfreich, aus dem Offenen immer wieder zur Einordnung zu kommen.
  • Eine Begrenzung erfahren und sie zu erforschen entspricht mir: Zum Herumschweifen braucht es einen Rahmen.
  • Tendenz: offene, assoziative Richtung.

Ist für dich „die Fähigkeit, in eine unabgelenkte, entrückte, erfüllte Konzentrationshaltung zu gelangen“ auch in der Eutoniepraxis  d i e  zentrale Dimension?

  • Nein, das ist nicht die zentrale Dimension; das ist nicht mein Ziel, wenn ich übe.
  • Die beschriebene Haltung ist nicht machbar; sie stellt sich manchmal ein, ist aber nicht mein zentrales Anliegen.
  • „Entrückt“ stört mich, das wäre ein Zustand, der eher vom Körperempfinden getrennt ist.
  • Das ist für mich nicht der Hauptfokus der Eutonie. Eutonie bleibt nicht beim Selbstbezug.
  • Für meine Praxis ist das nicht die zentrale Dimension.
  • Die zentrale Dimension bezeichne ich eher als „wache Präsenz“ – ein „Schwebevorgang“, eine Offenheit für unterschiedliche Dimensionen, über die ich nicht verfügen kann.

Würdest du Eutonie einem der beiden genannten Bereiche (sportlich oder künstlerisch) zuordnen?

  • Eher dem künstlerischen Bereich: Eutonie fördert einen kreativen Umgang mit sich und anderen. Im (Leistungs-)Sport kann Eutonie ausgleichend wirken.
  • Die „Kunst der Eutonie“: das alltägliche Tun.
  • Eutonie ist in vielen Bereichen anwendbar. Meine Praxis wendet sich an Jedermann und Jedefrau.
  • Eutonie ist mehr dem Künstlerischen zuzuordnen, kann aber auch im Sport wichtige Impulse setzen.

Auswertung: Renate Riese

Bremen, Januar 2021

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