Nachdenken über die Pädagogik der Eutonie: Teil 2

Grundzüge der Holzkampschen Lerntheorie mit Blick auf die Pädagogik der Eutonie

von Ursula Robenek

Quelle: Holzkamp, Klaus: Lernen: subjektwissenschaftliche Grundlegung, Frankfurt/Main; New York: Campus Verlag (Studienausgabe 1995)

Klaus Holzkamp entwickelt seine Lerntheorie in Abgrenzung zu traditionell akademischen Theorien der Lernpsychologie, bei denen er mangelnde Aufmerksamkeit für die Lernenden und deren Eigeninteressen konstatiert. Daraus resultiere ein Lehrlernkurzschluss, d.h. die Unterstellung, aus Lehren erfolge automatisch Lernen. Die Vorstellung, durch Lehrpläne, Lehrstrategien und die didaktische Zurüstung der Lernprozesse schüfen die Lehrenden die Bedingungen für ein ihrem Verständnis und ihrer Absicht nach erwünschtes Lernen, sei irrig.

Holzkamp fokussiert anders, lenkt sein Interesse hin zu erwachsenen Lernenden und entwickelt eine subjektwissenschaftliche Lernkonzeption. Hier bildet der Standpunkt des Lernsubjekts mit seinen genuinen Lebensinteressen den Ansatzpunkt für die wissenschaftliche Arbeit.

Holzkamp konkretisiert das lernende Subjekt als sinnlich-körperliches Individuum. Es existiert mit seinem Standpunkt an einem bestimmten raumzeitlichen Ort, befindet sich in einem eigenen lebenspraktischen Bedeutungszusammenhang mit individualgeschichtlicher Prägung. Seine Körperlichkeit und seine soziale Stellung legen ihm Beschränkungen auf, ebenso wie die Undurchdringlichkeit der stofflichen Realität der das Individuum umgebenden  Welt.

Die unmittelbare körperliche Erfahrung des Subjekts als Erfahrungstatbestand muss unterschieden werden von der mittelbaren Erfahrung Dritter, die von außen Wissen über den Körper an das Subjekt weitergeben.

Das körperliche Individuum steht vor der Gegebenheit, sich in seiner Umwelt situieren zu müssen. Dabei lenkt es seine Beachtung (Wahrnehmungspräsenz) und lässt sprachliche Qualifizierung als inneres Sprechen in seine Beachtung einfließen. Im inneren Sprechen äußert das Subjekt seine intentionale Zuwendung zur Welt, zu anderen und zu sich selbst. Inneres Sprechen als Mittel der Beachtungslenkung ermöglicht ihm beim Lernen eine an sich selbst gerichtete Stellungnahme (als Selbstkommentar, -aufforderung, -instruktion etc.).

Holzkamp entwickelt die Grundbestimmungen des Lernens in der Welt- und Selbstsicht von „je mir“ als Lernsubjekt. Von diesem Standpunkt aus gründet Lernen in einer Handlungsproblematik des Individuums, das eine Handlung mit den ihm bisher zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nicht auszuführen vermag, auf Schwierigkeiten stößt. Das Subjekt lernt demzufolge aus „gutem Grund“.

Holzkamp konzeptualisiert Lernen als intentionales Lernen, d.i. speziell gerichtetes Handeln (Lernhandlung) zur Überwindung einer Handlungsschwierigkeit. Diese wird zur Bezugshandlung für die Lernhandlung  und ist somit inhaltlich bestimmt durch die Bedeutungsstruktur der ursprünglich angestrebten, jedoch nicht zu bewältigenden Handlung. 

Damit es eine Handlungsproblematik in eine Lernproblematik überführen kann, muss das Subjekt innehalten und  Distanz gewinnen,  um die Ursachen für seine Schwierigkeiten herauszufinden und daran anschließend nach Möglichkeiten suchen, die vorhandenen Barrieren lernend zu überwinden.

 Holzkamp fragt nach der von „je mir“ gegebenen Lernbegründung und unterscheidet diese zwischen expansiv und defensiv.

Expansiv ist eine Lernhandlung dann, wenn sie mit Verweis auf die damit verbundene Erwartung auf eine Erhöhung der Lebensqualität begründet wird. Eine solche Motivation setzt voraus, dass das Individuum den inneren Zusammenhang zwischen lernendem Weltaufschluss,  Verfügungserweiterung  und erhöhter Lebensqualität direkt erfahren oder antizipieren kann.

Wird das Lernen begründet mit Verweis auf eine vom Individuum befürchtete Verschlechterung seiner Lebensqualität, falls es nicht lernt, liegt seine Motivation in der Abwehr eventueller Beeinträchtigungen seiner Situation, spricht Holzkamp von defensiven Lernhandlungen. Expansiv/defensiv sind analytische Begriffe für die theoretische Konzeption, keine Qualitätsurteile über beobachtbare Lernprozesse von „je mir“.

Allgemein betrachtet ist die uns umgebende Welt voller potentieller Lerngegenstände. Auf der Weltseite stehen sie dem Individuum gegenüber, können von ihm zu einem thematisch bestimmten Lerngegenstand werden, d. h. das Subjekt versucht, in die Bedeutungsstruktur des Gegenstandes einzudringen. Er ist dem Individuum anfänglich lediglich in seiner naheliegend oberflächlichen Beschaffenheit zugängig. Ob es durch Lernen verallgemeinerte Bedeutungszusammenhänge erschließen kann, hängt ab von der „Tiefe“ des Lerngegenstandes. Fällt seine Bedeutungsstruktur weitgehend mit seiner unmittelbar in Erscheinung tretenden Beschaffenheit zusammen, ist verallgemeinerndes Lernen nicht möglich. Je mehr „Tiefe“ er aufweist je komplexer sind seine Verweisungen auf verallgemeinerte Bedeutungszusammenhänge.

Beginnt das Subjekt wieder zu lernen, greift es auf bereits vorhandenes Wissen und Können zurück, wobei das Vorgelernte Erwartungen in Bezug auf die nunmehr zu erschließende Bedeutungseinheit weckt. Holzkamp konzeptualisiert Erwartungen weder vollkommen eindeutig noch als gar nicht vorhanden. (mittlerer Unsicherheitsgrad)  In seiner ersten Annäherung an den Lerngegenstand erfährt das Individuum die Diskrepanz zwischen  vorhandenem Vorgelernten und aktuell zu Erschließendem. Es erfährt, dass es mehr zu lernen gibt als ihm bisher bereits zugänglich war. Diese Erfahrung der Unmittelbarkeitsverhaftetheit wird im Prozess des Lernens nach und nach aufgehoben und das Individuum ist in der Lage, immer vermitteltere gesellschaftliche Bedeutungsstrukturen zu erfassen. Ein solches Lernen ist intendiert und expansiv. Es dient nicht lediglich der situativen Bewältigung einer Handlungsproblematik, sondern ist angelegt auf Permanenz und Kumulation, bleibt also erhalten und bildet ein neues Niveau für zukünftige Lernhandlungen.

Ausgehend von der Situiertheit des Subjekts in dessen je besonderen  lebenspraktischen Bedeutungszusammenhängen konzeptualisiert Holzkamp  Lernen als einheitliche Praxis, die im Hinblick auf das Verhältnis zwischen motorischen und mentalen Aspekten zu explizieren, nicht jedoch lediglich auf einen davon zu reduzieren ist.

Jede Handlung, jede Lernhandlung enthält körperliche Bewegungen. Holzkamp unterscheidet zwischen Hilfsbewegungen (z.B. gehen, um etwas zu holen) und intendierten Bewegungshandlungen (z.B. der Gesundheit wegen in den Wald zu gehen). Hilfsbewegungen und Bewegungshandlungen sind  gleicher Art, haben allerdings für das lernende Subjekt unterschiedliche Bedeutung, werden von ihm unterschiedlich begründet.

Hilfsbewegungen werden lediglich mitgelernt, Bewegungshandlungen – sofern für sie eine selbständige Lernintention existiert – können zu motorischen Lernhandlungen werden. Bewegungshandlungen implizieren Bedeutung (Mauern: Bauen eines Hauses) und sie sind nicht elementarer, bewusstseinsferner als mentale Handlungen. Deshalb ist Bewegungslernen unter thematischen Aspekten zu organisieren, nicht lediglich unter operativen.

Stößt  das lernende Subjekt auf Schwierigkeiten bei seiner Annäherung an seinen Lerngegenstand, muss es sie, wenn die Schwierigkeiten im Bereich der Bewegungshandlung liegen, durch Bewegungslernen zu überwinden versuchen.

Der Anlass für Bewegungslernen liegt stets in der Diskrepanz zwischen körperlicher Schwerfälligkeit und individueller Unverfügbarkeit  über spezifische Bewegungen, so dass eine Annäherung an den Lerngegenstand (z.B. Klavierspielen)  erst einmal erschwert bis verhindert wird. Einüben von Einzelbewegungen, die allmählich zu umfassenderen Bewegungsverläufen gefügt werden (operatives Lernen) sind unselbständige Teilmomente des Lernens, unverzichtbar jedoch, um die Bedeutungsadäquatheit der Gesamtbewegung zu erschließen. (am Beispiel des Klavierspielens: musikalisches Geschehen zu produzieren und zu gestalten.)

Soll Bewegungslernen nicht in der Vervollkommnung individueller Fähigkeiten stecken bleiben, muss es unter thematischen Aspekten erfolgen, d.h. gegenständliche Bedeutung praktisch umzusetzen. Holzkamp, für den der Grund des Lernens in der Verfügungserweiterung des Subjekts im Austausch mit der Welt zu finden ist, spricht von bedeutungserfüllten Bewegungen, wenn Bewegungslernen die neue Erfahrung der Überschreitung der „Erdenschwere“ des eigenen Körpers und der widerständig-stoffllichen Außenwelt ermöglicht. Er schränkt ein, dass eine solche Erfahrung bedeutungshaft-erfüllter Bewegungen lediglich in zeitlich begrenzten „glücklichen“ Augenblicken zu erlangen ist.

Mentales Lernen erfordert  körperliche Bewegung, so dass es nicht möglich ist, bei der Ausgliederung aktueller Lerngegenstände mentales Lernen vom Bewegungslernen zu isolieren. Zwar können praktische und mentale Aspekte unterschiedlich akzentuiert sein, stehen real jedoch immer in Bezug zueinander.

Lernen, wie intendiert auch immer, verläuft nicht reibungslos. Vorwissen und Anwendung von Lernstrategien spielen mit, komplizieren und organisieren inneres Sprechen im Lernprozess.

Affinitive Lernphasen, geprägt durch eine offene Haltung gegenüber Bedeutungsverweisen, schweifende Beachtung, assoziatives Vorgehen und durch eine Vergangenheitsbezüge herstellende Herangehensweise können beim Lernen von „je mir“ den Beginn bestimmen und auch dann hilfreich sein, wenn der Lernprozess stockt. Wieder in Gang gekommen, kann das Individuum seine Vorgehensmodalität ändern und das Lernen bewusst und definitiv voranbringen.

Lernen enthält fixierende, definitive und affinitive Momente, die in der Lernhandlung ins Verhältnis zu bringen, bzw. so abzuwechseln sind, wie es die aktuelle Lernproblematik erfordert. Holzkamp führt aus, dass eine affinitive Lernhaltung beim Bewegungslernen verhindern kann, sich durch operative Fixierung auf klar definierte Ergebnisse zu blockieren.

Die Fähigkeit, in eine unabgelenkte, entrückte, erfüllte Konzentrationshaltung zu gelangen und diese möglichst lange halten zu können erscheint ihm als d i e zentrale Dimension der lernenden Gegenstandsannäherung in sportlichen und künstlerischen Bereichen. Nie sollen affinitive Lernphasen unterdrückt werden, weil das in ihnen zugehörige Herumschweifen dem thematisch inhaltlichen Aspekt des Lernens Dominanz einräumt und die operativ-planenden auf ihre sekundäre Funktion beschränkt.

Abschließend stellt Holzkamp Lernformen dar:

Personal-autonom

Der Logik des theoretischen Ansatzes entsprechend liegt hier die Priorität. Häufig durchwirkt Holzkamp die Darlegung seiner Kategorienbildung mit Hinweisen auf seine eigene Lernbiografie und betont, dass expansive (nunmehr keine Kategorie zur Erfassung von Lerngründen, sondern positive Bewertung U.R.)) Lernepisoden oft mit glücklichen Umständen  zu tun haben. Sie sind nicht planbar und daher in der Institution Schule kaum zu finden.

Personengebunden-asymmetrisch

Das Verhältnis zwischen Meister und Novize erlaubt partizipatives Lernen, bei dem der Novize Ansprüche an den Meister stellt, um durch  Vermittlung dessen Wissen und Können  zu erlangen  und selbst Meister zu werden. Expansives Lernen wird so  möglich.

Allerdings: Die Lernproblematik des Novizen resultiert nicht aus der Diskrepanz zwischen der im Lerngegenstand  enthaltenen Handlungsmöglichkeit und der mangelnden Fähigkeit des Novizen, diese zu realisieren, sondern aus der Diskrepanz zwischen dem vom Meister bereits realisierten Gegenstandsaufschluss und dem vom Novizen auf diesem Niveau noch nicht erreichten. Der Novize vollzieht nach, ein Prozess, in dem das Wissen und Können des Meisters nicht problematisiert wird.  Das setzt traditionell organisierte Lernbeziehungen voraus, in denen der Meister die zu akzeptierenden Kriterien bestimmt. Ein diese Grenzen überschreitendes Lernen ist hierbei nicht möglich.

Kooperativ

Hier stehen die lernenden Subjekte einem offenen Feld von Handlungs- und Lernmöglichkeiten gegenüber, haben gemeinsam eine für sie alle bestehende Lernproblematik definiert und beschlossen, zu deren Überwindung zusammen zu lernen. Voraussetzung ist hierbei eine kommunikative Lernmodalität, ein Dialog, orientiert an der Überwindung des Lernproblems. Die Lernenden organisieren den Lernprozess gemeinsam, vereinbaren arbeitsteilige Vorgehensweisen. Zu reflektieren ist der Tatbestand, dass Lernproblematiken und -gegenstände als definierte, nicht jedoch als real bestehende gegeben sind. Die Divergenzen zwischen personalen Perspektiven sind im kooperativen Lernen nicht aufhebbar. Die das personal-autonome Lernen bestimmende Sicht eines einzigen „je mir“ ist nicht länger unhinterfragt. Die von anderen als jeweils „je mir“ eingebrachten Positionen erfordern, Bezug auf den gleichen Gegenstand unterstellt, dass die durch Gemeinsamkeit aufgetretenen Divergenzen bearbeitet und aufgehoben werden. Gelingt das nicht, gilt es zu erfragen, ob die nicht zu überwindenden Verschiedenheiten beim Lernen aus der jeweiligen Perspektive folgert oder ob die einzelnen im Laufe des Lernprozesses für sich unterschiedliche Lerngegenstände  ausgemacht haben.

Hier liegt der Grundwiderspruch kooperativen Lernens: Perspektivendivergenz können den Lernprozess nur vorantreiben, solange er auf einen gemeinsamen Gegenstand bezogen bleibt. Bei unüberbrückbaren Divergenzen hat jeder die Möglichkeit, zu personal-autonomen Lernen zurückzukehren. Diese Alternative besteht und darf im kooperativen Dialog offen thematisiert werden.

Ursula Robenek, Diplompädagogin
Eutoniepädagogin un

EutonietherapeutinGelsenkirchen, Februar 2019                                                         

Weiterlesen:

Teil 3: Kritik, Fragen und Anregungen von Gudrun Nagel zur Eutonie auf Grundlage der Holzkampschen Lerntheorie (S. 5-6)

Quelle: Nagel, Gudrun: Leibliches Lernen Gestalt werden lassen. Eine konzeptkritische Auseinandersetzung mit dem Bildungsanspruch funktionaler Körperarbeitsverfahren – durchgeführt am Beispiel der Eutonie Gerda Alexanders

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