Atem und Eutonie – den Atem befreien
von Renate Riese
Die Atmung als zentrales Geschehen ist mit allen Körperfunktionen durch komplexe Rückkoppelungsprozesse verbunden. Sie gibt uns wertvolle unmittelbare Hinweise auf den aktuellen somato-psychischen Zustand eines Schülers / eines Patienten. Deshalb kommt dem Atem eine grundlegende Bedeutung in Pädagogik und Therapie zu. Verschiedene Methoden setzen mit ihrer Arbeit direkt am Atem an und erreichen damit den Menschen in seiner Ganzheit. Körpereigene Heilkräfte werden mobilisiert, das Gleichgewicht der Kräfte kann sich einstellen.
Andere Methoden nehmen einen indirekten Weg: Sie wirken über die am Atemgeschehen beteiligten Körperstrukturen und Funktionen auf den Atem ein und streben damit dasselbe Ziel an. Zu dieser Gruppe gehört die Eutonie Gerda Alexander. Die Vielfalt unterschiedlicher Umgangsweisen mit dem Atem bietet eine Chance: Menschen mit ganz unterschiedlichen Biografien finden ihren individuellen Zugang zu sich.
Statt Atemübungen: Normalisierung der unbewussten Atmung
Gerda Alexander, die Gründerin der Eutonie, sah in der „Normalisierung der unbewussten Atmung“ eine wichtige Aufgabe ihrer Methode. Sie ging davon aus, dass sich durch Auflösung von Spannungsfixierungen eine optimale Atmung einstellt:
„Spannungen im Beckenboden, in den Leisten und in der Bauchmuskulatur, in der Zwerchfell- und Zwischenrippenmuskulatur, in den Schultern, im Nacken, in Händen und Füßen, im Magen-Darmkanal und in den Sexualorganen: sie alle hemmen die Atmung. Werden sie aufgehoben, normalisiert sich die Atmung umgehend. Werden dagegen aktive Atemübungen gemacht, werden diese Hemmungen durch eine größere Atembewegung anscheinend überspielt, um im Moment der Umschaltung auf die unbewusste Atmung wieder zu erscheinen.“
(Gerda Alexander in: Eutonie – Ein Weg der körperlichen Selbsterfahrung)
Langjährige Erfahrungen mit asthmakranken Kindern in einer Klinik lehrten: Allein das Wort „Atem“ löste Stress und Angstreaktionen aus. Aber auch durch ihre Arbeit mit Sängern, Bläsern und Schauspielern sah sich Gerda Alexander in dem Gedanken bestätigt, dass aktive Atemübungen keine nachhaltigen Verbesserungen im Atemgeschehen hervorbringen. Bei diesen Menschen, die verschiedene Atemschulungen durchlaufen hatten, dauerte die Tonusregulierung in der Regel deutlich länger. Tonusfixierungen waren schwerer aufzuheben als bei Schülern ohne vorherige Atemschulung.
Aus solchen Beobachtungen heraus entwickelte Gerda Alexander ihre Methode
auf dem Grundsatz: Das Mögliche (die Ressourcen) ent-decken – nicht das Symptom (den Mangel) fokussieren.
Durch Körperwahrnehmung Spannung regulieren
Eutonie nimmt den Weg über die greifbare und fühlbare Realität: Die Haut und tiefer liegende Gewebe werden bewusst gemacht – ein konkreter Zugang mit spürbar tonusregulierender Wirkung. Je flexibler der Muskeltonus, desto geschmeidiger kann sich die Atembewegung durch den ganzen Körper ausbreiten und auf die Erfordernisse einstellen. Dabei begegnet die Schülerin / die Patientin auch ihren Mustern, z.B. der Gewohnheit, in der Aktivität den Atem anzuhalten. Sie erfährt, wie Gefühle und Gedanken sich körperlich manifestieren, Körper und Geist ein untrennbares Ganzes bilden. Die Wiederherstellung des vegetativen Gleichgewichts wird oft als Befreiung des Atems wahrgenommen: „Ich kann wieder durchatmen!“ (Ausruf einer Schülerin) So kann die Atmung als unbewusster Vorgang allmählich bewusst werden.
Über die Haut (Berührung) führt der Weg nach innen, in die vom Atem bewegten Körperräume. Durch immer feinere Körperwahrnehmung lernt die Schülerin / die Patientin allmählich, den Atem zuzulassen. Sie erlebt das Kommen und Gehen, Atembewegung und Atemqualität, Rhythmus und Dynamik ihres Atems. Sie begleitet mit wacher Aufmerksamkeit, wie sich der Atem im Spiel bewusster Bewegung in den Außenraum (Kontakt, Aufrichtung über die Knochenstruktur) verändert. Das Gleichgewicht der Kräfte wird durch innere und äußere Einflüsse ständig bedroht und muss immer neu gefunden werden.
Atem professionell einsetzen: Sprechen und Musizieren
Mit zunehmender Fähigkeit, Spannungen auszubalancieren, ist eine Grundlage geschaffen, den Atem professionell und gezielt einzusetzen, z.B. beim Sprechen, Singen oder Spielen eines Blasinstruments.
Der Wechsel von der willkürlich gesteuerten, geführten zu einer sich selbstregulierenden, ungestörten Atmung, der für die Rekreation im Ruhezustand und Schlaf so wichtig ist, kann selbstverständlicher vollzogen werden.
In der Beweglichkeit zwischen Aktivität und Ruhe, zwischen Tun und Lassen, zwischen unwillkürlicher und willkürlicher Atmung liegt die Chance, das eigene Potential zu entdecken.
Nachbemerkung: Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass der (indirekte) Weg über die bewusste Körperwahrnehmung zum Atem mir neue Welten eröffnet hat:
Die Befreiung des Atems durch Eutonie zeigte sich u.a. in einer überraschenden grundlegenden Veränderung meines Flötespiels. In den Jahren meiner Ausbildung zur Eutoniepädagogin / Eutonietherapeutin habe ich diesen Weg mit der Querflöte systematisch experimentiert und damit Möglichkeiten entdeckt, die mir zuvor trotz langjährigen Flötenunterrichts und Musikstudiums versperrt waren.
co Renate Riese
Erstveröffentlichung am 1. Februar 2008 im Rahmen des Atemkongress der Afa